Früher war alles besser! Warum wir Veränderung als Kritik an der Vergangenheit wahrnehmen


Wir alle sind Gewohnheitstiere. Wir halten, wenn möglich und so lange es geht, an bekannten und uns vertrauten Verhaltensweisen, Prozessen und Strukturen fest – auch (oder gerade!) im Arbeitskontext. Das ist auch erstmal nichts Schlechtes, sondern ganz normal und hilft uns, uns durch die komplexe (Arbeits-)Welt zu navigieren. In Transformationsprozessen in Unternehmen wird jedoch genau dieser Default-Mechanismus auf den Prüfstand gestellt.

Auf einmal sollen gelernte Verhaltensmuster aufgebrochen und “entlernt” werden, um durch neue Routinen, Denk- und Verhaltensweisen ersetzt zu werden. Und das am besten nicht nur einmal, sondern ab jetzt gefühlt andauernd. 

Klingt anstrengend? Ist es auch!

Veränderung wird von Menschen in Organisationen nämlich häufig nicht als etwas Positives wahrgenommen, sondern zunächst mal als Kritik an der Vergangenheit verstanden. Viele fragen sich: Wenn wir jetzt etwas verändern (müssen), warum haben wir die Dinge in der Vergangenheit dann überhaupt auf eine bestimmte Art und Weise getan? Bisher hat es doch auch so funktioniert, was soll denn daran auf einmal schlecht sein? Gute Laune ist da vorprogrammiert – nicht.

Wie so oft hilft es, wenn wir den Hintergrund für bestimmte Verhaltensweisen kennen.

Gerade, wenn wir die Aufgabe haben, Veränderungen voranzutreiben – sei es als Führungskräfte oder in einem Transformationsteam – müssen wir uns früher oder später mit Widerständen auseinandersetzen. Und je genauer wir verstehen, woher diese rühren, desto leichter lässt sich mit ihnen umgehen und vielleicht sogar mit ihnen arbeiten.

Warum wird Veränderung also so oft als Kritik an der Vergangenheit wahrgenommen? Dazu finden sich u.a. in der Psychologie viele Erklärungsansätze. Als kleiner Disclaimer sei hier noch gesagt: Natürlich hinterfragen nicht alle Menschen Veränderungen grundsätzlich kritisch. Menschen können Veränderung positiv konnotieren, als ein sich natürlich entwickelnder Fortschritt mit Risiken aber vor allem Chancen, oder negativ einordnen, als Korrektur eines bisher als positiv wahrgenommenen Kurses. In Unternehmen prägt oft letzteres die Wahrnehmung von Transformationsprozessen. Jetzt aber zum eigentlichen Inhalt:

Bin ich denn jetzt nichts mehr wert? (Bedrohung des Selbstwerts)

Wenn ein Unternehmen mit dem bekannten Status Quo bricht und auch brechen muss, um weiterhin erfolgreich zu sein, wird gleichzeitig unser eigenes Denken und Handeln aus der Vergangenheit in Frage gestellt. Dasselbe Verhalten, das uns bisher Anerkennung und Wertschätzung eingebracht hat, ist nun nicht mehr erwünscht. Dieses gefühlte Defizit kann unser bis dato stabiles Selbstwertgefühl erschüttern. Denn schließlich haben wir oft selbst an diesem Status Quo in einem Unternehmen mitgewirkt. Rückblickend haben wir vielleicht auch ganz persönlich dazu beigetragen, dass etwas nicht optimal läuft und nun müssen wir uns eingestehen, einen falschen Kurs eingeschlagen zu haben. Wie äußert sich das? Zum Beispiel darin, dass Mitarbeiter:innen und Führungskräfte eines Unternehmens in der Vergangenheit strategische Entscheidungen getroffen, Prozesse eingeführt, Personen eingestellt oder die Teamkultur mitgestaltet haben, die ihren Arbeitskontext bis heute prägen. Wenn diese in Transformationen überdacht und angepasst werden sollen, stellt das unsere eigenen Motive und Handlungen – also unser Selbstbild – aus der Vergangenheit in Frage. Und wenn unsere Identität und unser Selbstverständnis so fundamental in Frage gestellt werden, ist es nicht wirklich überraschend, warum Menschen in Unternehmen häufig Veränderungswiderstand ausdrücken, indem sie dem Wandel kritisch gegenüberstehen.

 

the new normal Transformations-Hack (1/4):

✔️ Gründe für die Veränderung transparent kommunizieren 

✔️ Wertschätzung für die bisherige Arbeit aller Beteiligter aussprechen

✔️ Raum für Reflexion und Diskurs bieten, in dem vorwärtsgerichtete Diskussionen im Fokus stehen

 

 

Früher war eh alles besser! (Der Status-Quo Bias)

Dieser umgangssprachliche Ausruf hat einen sehr wahren und wissenschaftlich fundierten Kern: Den Status-Quo Bias (auch Ist-Zustand-Verzerrung). Im Arbeitskontext unterstreicht der Status-Quo Bias den Wunsch nach möglichst wenigen Veränderungen in der Kultur und den Prozessen und Strukturen des Unternehmens. Die Tendenz, am aktuellen Zustand in einer Organisation festhalten zu wollen, begegnet uns in Unternehmen häufig in Aussagen von Mitarbeiter:innen und Führungskräften wie

“das haben wir hier schon immer so gemacht”.

Wir vermeiden mit dieser Strategie, uns Unsicherheiten auszusetzen. Da in Transformationsprozessen alles Bestehende auf den Prüfstand gestellt wird, fragen wir uns: Ist mein bisheriges Verhalten noch erwünscht? Wie sollte meine Entscheidung ausfallen, wenn ich sie an der neuen Strategie ausrichte? Wir können nicht mehr auf gewohnte Muster zurückgreifen und daher kosten uns diese Fragen zusätzliche Energie. Als schlaue und auf Effizienz getrimmte Gattung vermeiden wir Energieverschwendung natürlich tunlichst. Eigentlich ganz clever, aber der Status-Quo Bias erschwert Veränderungen und Innovationen, denn die Macht der Gewohnheit wiegt schwer. 

Klingt schlimm? Keine Sorge, wir können noch einen drauflegen: Denn während der Status-Quo Bias nur dazu beiträgt, dass wir am aktuellen Zustand festhalten wollen, sorgt sein großer Bruder – der Positivitätsbias – dafür, dass wir Positives stärker in Erinnerung behalten als Negatives und damit die Vergangenheit oft verklären. 

Neben der Tendenz, am Status Quo festzuhalten, ist die positive Verzerrung unserer Erinnerung an die Vergangenheit für Transformationen in Unternehmen eine besondere Herausforderung. Vor allem, aber nicht nur, in Organisationen und Unternehmen mit einer langen Historie und großen Reputation begegnet uns die sogenannte Retromanie – also die romantische Verklärung von vergangenen Zeiten – regelmäßig in Aussagen wie “früher war alles besser”. 

Die beschriebenen Phänomene lassen sich als kognitive Verzerrung zusammenfassen und sorgen gemeinsam dafür, dass wir Vergangenes glorifizieren. Der Gap zwischen der angestrebten Veränderung und der Vergangenheit erscheint also noch größer als er in Wahrheit ist.

 

the new normal Transformations-Hack (2/4):

✔️ Unsicherheit abbauen, indem Menschen am Veränderungsprozess teilhaben können

✔️ Aufklärung über die Funktionsweise von kognitiven Verzerrungen, die unser Denken und Handeln unbewusst prägen können

✔️ Iteratives Vorgehen: Nicht alles auf einmal verändern wollen, sondern in kleinen Schritten Neues ausprobieren und einführen

 

 

Wisst ihr eigentlich, was es mich gekostet hat, so weit zu kommen? (Der Sunk Cost Effekt)

Die Präferenz für den Status Quo in der Gegenwart im Vergleich zu Veränderungen in der Zukunft wird zusätzlich dadurch unterstützt, dass in der Vergangenheit investierte Ressourcen wie Zeit, Geld und Anstrengungen ein Festhalten an Altbewährtem rechtfertigen. Hier sprechen wir von einem Sunk Cost Effekt, einer weiteren Form der kognitiven Verzerrung. Dieser beschreibt, wie wir an all den Dingen, die wir in der Vergangenheit bereits eingesetzt haben, möglichst lange festhalten und davon zehren möchten. Diese Tendenz zeigt sich unabhängig davon, dass auch in der Vergangenheit nicht alle unsere Entscheidungen und Handlungen von Erfolg gekrönt oder mit ausschließlich positiver Resonanz verbunden waren. 

Warum tun wir das also? Wieso halten wir trotz dessen an vergangenen Entscheidungen und Verhaltensweisen fest und bestärken diese ggf. sogar weiter, auch wenn sie aufgrund des Wandels zukünftig gar nicht (mehr) erfolgversprechend für unsere Organisation sind? Dahinter steckt ein „eskalierendes Commitment“, das durch das Pflichtgefühl entsteht, dass unsere bereits investierten Ressourcen und unsere Energie nicht umsonst gewesen sein sollen. Außerdem möchten wir in den Augen unserer Kolleg:innen und Vorgesetzten als konsistent und vertrauenswürdig in unseren Entscheidungen und unserem Verhalten wahrgenommen werden. Veränderung würde mit unserem inneren Selbstbild brechen und eine kognitive Dissonanz aufbauen, weswegen wir dazu tendieren, eine einmal getroffene Entscheidung oder ein bestehendes Verhalten zu bestätigen und weiter beizubehalten.

 

the new normal Transformations-Hack (3/4):

✔️ Die Vergangenheit würdigen

✔️ Aktiv die Dinge benennen, die beibehalten werden sollen, bspw. bestimmte Werte, und die nicht beibehalten werden sollen, um eine realistischere Reflexion der Vergangenheit anzustoßen

 

 

Lieber den Spatz in der Hand… (Die Verlustaversion)

Aber zur Wahrheit gehört auch: Auch früher dachte man, früher sei alles besser gewesen. Es handelt sich hierbei also auch um eine kognitive Verzerrung unserer Erinnerung, die den Kontrast zur Gegenwart in Transformationsprozessen noch weiter erhöht. Wir flüchten uns gedanklich umso häufiger in die Vergangenheit, je bedrückender sich unsere aktuelle (berufliche) Situation für uns anfühlt. Und wenn wir die Vergangenheit positiv verklären, haben es Veränderungen im Jetzt umso schwerer. Durch das Festhalten am Status Quo und den positiven Bias der Vergangenheit wird die gefühlte Distanz zwischen positiv verzerrter Vergangenheit und wahrgenommener Unsicherheit durch Veränderungen in der Gegenwart und Zukunft noch größer. 

Die menschliche Tendenz, den aktuellen Status Quo zu bevorzugen, an der Macht der Gewohnheit durch bereits investierte Ressourcen in Unternehmenstransformationen festzuhalten und die Vergangenheit in der Erinnerung ins Positive zu verklären, kann unter anderem auf die sogenannte Verlustaversion zurückgeführt werden. Diese beschreibt, dass Verluste für uns subjektiv wahrgenommen schwerer wiegen als mögliche Gewinne. Übertragen auf Transformationen in Unternehmen bedeutet das, dass Veränderungen vordergründig häufig mit Einschränkungen, Verboten oder dem Wegfall von etablierten Routinen (= Verlusten) assoziiert werden. Nur im Hintergrund liegt gleichzeitig die Chance, Dinge ab jetzt anders machen zu können, innovativ zu bleiben und langfristig Veränderungen ins Positive voranzutreiben (= Gewinnen).

 

the new normal Transformations-Hack (4/4):

✔️ Die Zukunft greifbar machen, z.B. durch gemeinsame Visionierungen

✔️ Das Zielbild gemeinsam in partizipativen Prozessen erarbeiten

✔️ Verlustängste als real anerkennen und Raum dafür bieten

 

 

Vergangenheit als Motor für Veränderung!

Das Festhalten an der Vergangenheit hat nicht nur eine Menge realer und nachvollziehbarer Gründe, es kann unter gewissen Voraussetzungen Veränderungen sogar vorantreiben, statt sie zu behindern. Hier dient die Vergangenheit nicht nur als Ort für (verzerrt) positive Erinnerungen. Eher im Gegenteil: Sie wird vor allem als Quelle für persönliches und kollektives Wachstum gesehen, aus dem Teams und Organisationen viel lernen können. Veränderung ermöglicht Verbesserungen, Innovationen und Anpassungen. Und so wird Teams explizit Raum gegeben, darüber zu reflektieren, welche weniger wünschenswerten, negativen Aspekte die Vergangenheit auch mit sich gebracht hat. Leitfragen hierfür sind: Wo wollen wir hin und was hat uns bisher zurückgehalten?

Um die Kluft zwischen Vergangenheit und Gegenwart in Transformationen ersteinmal zu überwinden, ist ein wichtiger Schritt, dass sich alle Beteiligten der oben beschriebenen psychologischen Motive hinter unseren Entscheidungen, Einstellungen und Verhaltensweisen bewusst werden. Nur so können Entscheider:innen und Projektteams von Transformationsprojekten sicherstellen, dass Menschen in ihren Organisationen und auch sie selbst offen für Veränderungen sind und bleiben. So können sie den bevorstehenden Herausforderungen entschlossen und selbstwirksam entgegentreten. Nur dann kann Veränderung als natürlicher Bestandteil des Fortschritts empfunden werden. Und eins ist in jedem Fall ganz klar: Die negative Konnotation von Veränderung und die Angst vor dem Unbekannten lösen Unsicherheiten bei Mitarbeiter:innen und Führungskräften aus. Diese sind ganz normal und bei uns allen unterschiedlich stark ausgeprägt.

the new normal Fazit und praktische Empehlung:

Diese Unsicherheiten sollten ernstgenommen werden und können durch Reflexion, Beteiligung und Befähigung aufgelöst werden. Am Ende kann nur so für alle sichtbar und spürbar werden, dass sich für jeden Schritt in die Zukunft der Blick in die Vergangenheit lohnt – nicht um an ihr festzuhalten, sondern um von ihr zu lernen.